Borgholzhausen

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Licht und Sicht

Zur Kunst aus Glas von Thierry Boissel in der Pfarrkirche von Borgholzhausen

Aus Hunderten von Quadraten setzt sich das blaue Band zusammen, das sich horizontal auf der Fläche ausweitet: Mit einem Kreuz in seinem Inneren erscheint es im Zentrum einer abstrakten Komposition, die sich symmetrisch zu beiden Seiten entwickelt und dabei eine wechselreiche Wirkung entfaltet. Mehr als zehn Meter lang und drei Meter vierzig hoch ist die Wand, die sich seit 2013 in der Kirche St. Marien und St. Nikolaus in Borgholzhausen erhebt: Ein monumentales Kunstwerk aus strukturiertem und verspiegeltem Glas, das den Kirchenraum und die Werktagskapelle voneinander trennt und zugleich verbindet. Sie wurde errichtet im Zuge der Umbauarbeiten nach den Plänen des Architekten Hans-Joachim Kruse und ausgeführt in der Glasmalereiwerkstatt Peters in Paderborn. Der künstlerische Entwurf stammt von Thierry Boissel, dem Leiter der Studienwerkstatt für Glasmalerei, Licht und Mosaik an der Münchener Akademie der Bildenden Künste. Hier, in dem schlichten modernen Betonbau, hat der französische Künstler im Kontext mit der Architektur und ihrer Ausstattung eine Arbeit geschaffen, die das Kircheninnere in einem neuen Licht erscheinen lässt. An der Stelle der ehemals geschlossenen Kapellenwand und ihrer Verbindungstür, die in leicht abgewinkelter Form nach hinten zurückversetzt wurde, findet sich heute das von mehreren Seiten wahrnehmbare Werk. Mit dieser neuen Wandgestaltung und ihrer Situation wird die Kapelle nicht nur räumlich erweitert. Sie öffnet sich auch zu dem großen Kirchenraum, bezieht ihn mit ein, gibt Licht und Sicht, ist Trennung und Zugang zugleich. Im Unterschied zu den farbigen figürlichen Kapellenfenstern nach den Entwürfen von Schwester Ehrentrud Trost, die aus dem Jahre 1961 stammen, erscheint sie in einer reduzierten, geradezu puristischen Formensprache aus klarem und teilweise koloriertem Glas. Dabei handelt es sich um Einscheibensicherheitsglas aus Floatglas, das in einer von Thierry Boissel eigens entwickelten Technik heiß verformt und gestaltet wurde. Auf diese Weise sind die erhabenen Strukturen auf der Kapelleninnenseite entstanden, die im Zentrum der Wand nicht nur plastisch durch das Relief hervorgehoben werden. Sie sind darüber hinaus von dunklen Flächen mit Schwarzlot-Überzug umgeben, die in Bezug zu den rauen Betonwänden eine unregelmäßige, stofflich anmutende Oberfläche besitzen. In der Mitte der Wand sind es seriell angeordnete glasklare und farbige Quadrate, die in dem schwarzgrauen Grund – mit wenigen Auslassungen – wie funkelnde Edelsteine aufblitzen und reflektierende Akzente setzen. Über dem Altar fügen sich die blauen Stücke zu einem verbindenden Band zusammen, das sich in seiner Mitte in organischer Form ausweitet. Es erscheint in einem hellen Blau, in der Farbe des Himmels und der Ferne oder auch der Transzendenz. Darüber hinaus kommt inmitten des Bandes ein Kreuz zum Vorschein, das hier erst in umgekehrter Form durch das Auslassen des Reliefs präsent wird, um sich gleichsam in der Abwesenheit als anwesend zu offenbaren. So taucht es auf mit einem roten Glasstück in seinem Schnittpunkt zum Zeichen des Blutes und des Opfers, in der Farbe der Liebe und des Lebens.

Daneben, zu beiden Seiten der zentralen Gestaltung beginnt sich ein weiteres Motiv kontrastreich in Schwarz und Weiß auszubreiten. Die Ornamentik für diese Grisaillen entwickelte der Künstler in Anlehnung an die Werke von Wilhelm Buschulte, der im Jahre 1971 die farblosen Fenster aus Betonglas im Kirchenraum gestaltet hat: Seine „freien Kompositionen“ erscheinen in einer von Fenster zu Fenster variierenden organisch vegetabilen Ornamentik, die sich in ihrer schwarzen Linienführung in reduzierter Klarheit entfaltet. Als eine Art Hommage an den Künstler und sein Werk komponierte Thierry Boissel für die Kapellenwand ein aus geometrischen Elementen bestehendes Motiv, das in seiner regelmäßigen Anordnung gleichermaßen auf beiden Seiten der Wand erscheint. Dabei besteht jedes einzelne Ornament aus einem offenen Kreis, der an einer Stelle in umgekehrter Form in ein Quadrat eingeschrieben ist und mit seiner betonten Mitte entfernt an eine Butzenscheibe erinnert. Zum Vorschein kommt ein Muster, das sich auf mehreren Ebenen betrachten lässt. Denn es vereint nicht nur die beiden Grundformen, den Kreis und das Quadrat, die sinnbildlich für den Himmel und die Erde stehen können, sondern bildet in seinem Neben- und Miteinander auch das Kreuz als verbindendes Element heraus. Das heißt: Bei näherer Betrachtung scheint sich das Motiv immer wieder zu wandeln und verwandeln. Es wirkt je nach Lichteinfall in immer wieder neu aufleuchtenden Zusammenhängen, die verschiedene Möglichkeiten der Wahrnehmung zulassen. Während sich diese Ornamentik auf der einen Seite in farbloser Struktur fortsetzt, erscheint sie auf der anderen Seite im Rahmen der Tür in verspiegelter Form. Und dies in Verbindung mit der angrenzenden Gestaltung, bestehend aus kleinen Quadraten, die zunächst in planen, dann in erhabenen Feldern die Wand abschließen: Eine Formgebung, die auch auf den Türen der gegenüberliegenden Kapellenwand wieder aufgenommen wird.

Mit dieser Arbeit hat der Künstler ein auf elementare Formen konzentriertes Werk geschaffen, das mit überraschenden Effekten vielschichtig in den Raum hinein wirkt und ihm eine besondere Atmosphäre verleiht. Bei all ihrer klaren konstruktiven Ordnung wirkt die Wand mit ihren unterschiedlich hell reflektierenden Zonen geradezu ereignishaft. Sie erscheint vielfach lebendig bewegt, reich an abstrakten wie an zeichenhaften Zusammenhängen. Es ist ein nach allen Seiten hin offenes und zugleich verbindendes Werk, sowohl opak als auch transluzent, mitunter transparent, das sich je nach Situation und Blickwinkel zu verändern scheint. Immer wieder tritt es in einen neuen Dialog mit dem Licht und seinen verschiedenen Erscheinungsformen: mal brillant funkelnd oder spiegelglänzend, mal metallisch schimmernd oder samtig gedämpft, dann wieder durchdringend oder körperhaft sich verdichtend. Im Zusammenwirken mit dem Licht, das hier als ein ständig sich wandelndes Phänomen sichtbar wird, gibt die Wand viele neue Ein- und Ausblicke. Sie präsentiert sich in variierenden Durch- und Ansichten, die den Besucher und seine Wahrnehmung herausfordern, ihn individuell zur Betrachtung einladen.

Dr. Christine Jung