Texte

»Zeitgenössische Glasmalerei«

Zu Werken von Thierry Boissel
Magisterarbeit im Studiengang Magister Artium der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Philosophischen Fakultät II, Lehrstuhl für Kunstgeschichte. Betreuer: Prof. Hans Dickel
vorgelegt von: Sven Künzel M.A.

Die Arbeit von Sven Künzel kann kostenlos als PDF Datei bezogen werden
thierry@boissel.de anfragen

 

EIGENE VERÖFFENTLICHUNGEN:

„Über das Studium in Stuttgart mit Ludwig Schaffrath“. Ludwig Schaffrath – Universum in Glas – ISBN: 978-3-9810046-6-3, Seiten 202 – 205.

„Some toughts about Stained Glass on the occasion of the exihbition Lumières en éclat in Chartres, France“. Neues Glas/New Glass, 2/00, Seiten 34-39.

„Glasgestaltung und Farbe: Zeitgenössische Farbgestaltungen in der Architektur“
VDI Berichte 1527 – VDI Gesellschaft Bautechnik – Bauen mit Glas – ISBN 3-18-091527-7
Seiten 277 mit 294.

Grundsätzliche Überlegungen zur Situation der Zeitgenössischen Glasmalerei anlässlich einer Ausstellung in Chartres, Artikel im „Neues Glas/New Glas“ N° 2/00

Artikel über Michèle Pérozéni im „Neues Glas/New Glas“ N° 4/04.

Laufend Vorträge über die Zeitgenösische Glasmalerei u. oder die eigenen Arbeiten. Z. B. Vortrag bei der GLASTEC in Düsseldorf, Nov. 2004. Vortrag bei der ICELAND 2005, Architectural glass conference, April 5 – 7. 2005 at Kopavogur Art Museum.

 

Thierry Boissel: Farbe und Licht

August Heuser

Annäherung

Eigentlich braucht Thierry Boissel keine Farben um Glas eine Farbe zu geben. Es genügt das Licht um Glas intensiv farbig leuchten zu lassen. Mit vielen seiner Arbeiten hat der Künstler, der sich selbst als Glasmaler in des Wortes doppelter Bedeutung versteht, also einer der auf Glas malt und der mit Glas malt, davon Zeugnis gegeben. Es sind Wände aus reinem Glas, die farbig zu leuchten beginnen. Dies erzeugt die besondere Qualität des Lichtes, das durch das Glas gefiltert wird. Thierry Boissels Glaswände sind aber auch mit Farbe bemalt und gestaltet. Hier nun zeigt sich die besondere Qualität des Malers, der die Farbe zu setzen versteht und Farbe zu einer besonderen Wirkung durch das Licht führt.

Thierry Boissel nutzt also zwei Möglichkeiten des Glases und beide Male kann man von Glasmalerei sprechen. Malerei auf Glas und die Setzung von Glas im Raum, die dem Licht ermöglicht, seine Farbkraft zu entfalten und damit das Glas als Filter nutzt. Beides setzt einen sehr bewussten Umgang mit Glas voraus, einerseits das Wissen um die Qualitäten von Glas und seiner Beschaffenheit, andererseits das Wissen um die Bedeutung und Wirkung von Farbe in der Malerei.

Es waren die Franzosen – und Thierry Boissel ist Franzose – die zum ersten Male, je zu verschiedenen Zeiten, die Wirkung von Licht und Farbe erkundeten und formulierten. Das geschah zunächst in der Gotik, als man in Chartres und anderswo begann mit farbigem Glas in den Fenstern der Kathedrale zu experimentieren und dann im 19. Jahrhundert, als die Maler sich anschickten, das Licht in Farbe zu zerlegen, eine Malerei, die wir später mit dem Wort Impressionismus benannten. Hier setzt der Künstler mit seiner Arbeit an, hier sind die Wurzeln seiner Überlegungen, die ihn einerseits bedauern lassen, dass Glasmalerei im Bewusstsein auch moderner Menschen nur immer mit farbigen Glasstücken und Bleiruten verbunden wird, andererseits ihm ermöglichen, dass Licht gemäß der modernen Physik als eigenständiges Medium der Farbe erscheint. Freilich, so ganz geht die Gleichung Gotik und Impressionismus nicht auf, ist doch die Glasmalerei eine Kunst in der Dreidimensionalität. Es geht um die Dimension des Draußen, d.h. um den Ort der Herkunft des Lichtes, um die Dimension der Fläche, d.h. des Ortes, wo sich das Licht mit dem Glas verbindet und schließlich um den Ort der Wahrnehmung, der als Innen- oder Außenraum beschrieben werden kann.

Thierry Boissel arbeitet als Glasmaler. Er arbeitet aber auch auf Leinwand oder Papier. Seine Glasmalereien freilich gehen, entgegen mancher Mode, sparsam mit der Farbe um. Es sind bisweilen monochrome Farbflächen, die er ins Licht hängt, quasi Lichtfilter, die an einer Stelle dem Licht im Glas eine neue Qualität geben oder es sind kleine Farbtupfer, die er auf das Glas aufträgt und dort zur großen Entfaltung bringt. Es sind radikale Verknappungen oder Reduktionen von Farbe, die eine Steigerung des Lichtes als Licht in Brechungen und Reflexionen in und auf seinen Gläsern ermöglicht. So gesehen kann man formulieren, Thierry Boissels Arbeiten arbeiten am Licht, mit dem Licht und durch das Licht.

Theorie

Die philosophische Tradition der Griechen und die ihr folgende Tradition des Christentums, so der Johannesprolog im gleichnamigen Evangelium (Joh. 1,1-18), weist das Licht der Welt des Göttlichen zu. Licht ist, wie dort zu lesen, die erste Ausdrucksgestalt Gottes. Es lässt jedwedes Ding – im Gegensatz zur Finsternis – in Erscheinung treten und ist damit Ermöglichung jeder Erkenntnis der Welt. Durch das Licht können Menschen sich in der materiellen Welt zurechtfinden und diese Welt ordnen. Es ist die Grundlage aller Erkenntnis. Und eben diese Grundlage nennt die Philosophie auch Gott, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. So sieht es der Philosoph Pseudo Dionysius Areopagit, dessen Texte zwischen 500 und 534 nach Chr. entstanden sind und dessen Überlegungen zum Sein Gottes, die Grundlage für die Lichtmetaphysik des Mittelalters, also auch für die der Gotik, bilden. Nach ihm haben die Farben einen hohen Schönheitsrang. Sie verweisen als Ausdruck des Lichtes auf die Vielfalt Gottes und gleichzeitig auf dessen Einheit. Sie geben den Dingen erst ihren Charakter, ihre Anschaulichkeit. Sie sind endgültig der Sieg des Lichtes über die Finsternis.

Die Gedanken des Pseudo Dionysius Areopagit wirken über das Mittelalter bis in unsere Zeit fort, so z.B. in Goethes Faust, wo Mephistopeles zu Faust in Umkehrung des Johannesprologs und 2 Kor. 4,6 und Jak. 1,17 und unter Bezug auf Gen. 1, 2 sagt: „Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht den alten Rang, den Raum ihr streitig macht. Und doch gelingt´s ihm nicht, da es, so viel es strebt, verhaftet an den Körpern klebt. Von Körpers strömt´s, die Körper macht es schön…“. Hier wird durch Goethe mit wenigen Zeilen (1346 – 1355) des Areopagits Lichtphilosophie festgehalten und dargestellt. Diese hat dann auch Goethe in seinen „Beiträgen zur Optik“ übernommen. Heute kann man immer noch die Faszination des Lichtes gerade in seinem Zusammentreffen mit Farbe feststellen. Vom Kerzenschein und Feuerwerk bis hin zum Leuchten elektrischer Lichter in Diskos, auf und in Hochhäusern und großer Illuminationen in Kirchen und säkularen Gebäuden, immer wieder fasziniert das Licht mit seinen Farben und seinen vielerlei Erscheinungsformen. Diese Faszination reicht bei Kindern und bei Erwachsenen immer noch heran an das Göttliche, das in der Religionswissenschaft auch als das Faszinosum schlechthin benannt wird. Hier schließt sich der Kreis vom mittelalterlichen Menschen zum heutigen modernen Menschen in seiner Wahrnehmung trotz des neuzeitlichen physikalischen Wissens vom Licht. Die zeitgenössische bildende Kunst nimmt diese Faszination des Lichtes ebenfalls auf und setzt auf Licht und auf die Farbe im säkularen Raum, so am intensivsten aber sehr unterschiedlich z.B. die Gruppe ZERO, die Künstler Dan Flavin, James Turrell oder Mischa Kuball u.a. und natürlich die Glasmalerei der Moderne, stellvertretend sei hier der Lehrer von Thierry Boissel, Ludwig Schaffrath, zuerst genannt aber auch Jochen Poensgen, Johannes Schreiter, und Wilhelm Buschulte u.a., die sowohl was die Farbe als auch was die Mittel der Lichtbrechung angeht die Glasmalerei zu neuen glänzenden Ergebnissen geführt haben. Dabei ist das derzeit wohl am meisten diskutierte Licht – Farbe – Ereignis, das Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom, wohl in der Bildidee ein eher konservatives Kunstwerk im Gesamt der Glaskunst nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland. Ebenso könnte man wegen ihrer Ikonographie die drei kleinen Fenster zur Hl. Elisabeth von Ungarn von Neo Rauch im Dom zu Naumburg benennen. Unbestritten freilich sind die künstlerischen Grundlagen dieser beiden Arbeiten. Thierry Boissels künstlerische Arbeit mit dem Glas ist gegenüber diesen Positionen allerdings sehr viel bemerkenswerter und radikal neuer.

Praxis

Thierry Boissels künstlerische Arbeit mit Farbe ist präsent in freien Papier-, Leinwand- und natürlich in Glasarbeiten aber auch in der großen architekturgebundenen Wandarbeit, so sein Farbgedicht im Neubau der Grundschule in München, Nymphenburg (2011). Es ist eine „Spracharbeit“, die die Sprache über Farben herstellt und so ein Konzept über Sprache und Farbe realisiert, wobei er die Farbe als Farbton, also als einen Klang, begreift. Ähnlich arbeitet der Künstler auch in der St.-Magdalena-Kirche in München. Die Behandlung der Farbe in dieser Arbeit kann auch exemplarisch für die Papierarbeiten des Künstlers stehen.

Anders dagegen sein Umgang mit Farbe und Licht in seinen reinen Glasarbeiten. Eine beispielhafte Arbeit ohne Farbe ist die Wand (18 m x 3 m !) in der St. Agatha-Kirche in Altenhundem-Lennestadt (2011), die auch ohne Farbe Farbklänge entwickelt. Die aus gepresstem Glas gefertigte Arbeit hat eine Fotografie zur Grundlage und übersetzt diese Fotografie ins reine Glas durch die Rasterung der Glasfläche, ähnlich der Rasterungen in der Grafik. Eine in der Größe vergleichbare Arbeit sind die Trennwände und Windfänge der Hl.-Kreuz-Kirche in Detmold (2009). Diese Wand strukturiert der Künstler „durch regelmäßig angeordnete schmale Rechtecke, die durch ihre Farbigkeit oder durch ihre Oberfläche ein lebendiges und abwechslungsreiches Bild entstehen lassen.“ Die strenge Setzung der Rechtecke ergibt von oben nach unten gelesen Farbtürme, von links nach rechts gelesen die Notation von Farbklängen, die sich einerseits auf die Architektur des Raumes beziehen, andererseits auf die schon vorhandenen Fenster von Hubert Spierling. Zusammengebunden werden die farbigen Gläser durch die sehr unterschiedlichen Strukturen farbloser Scheiben.

Höhepunkte im Schaffen des Künstlers bilden sicher seine großen Glasmalereien, so z.B. in der St. Magdalena-Kirche in Altötting (2003 – 2004) die die freie (Wand)Arbeit in Nymphenburg vorwegnimmt oder die in der Kirche St. Johannes Baptist in Jena (2003), als konsequente Fortsetzung der Gestaltungsmöglichkeiten durch Farbfelder in der Aussegnungshalle in Neubiberg, München (2000). Auffällig ist zunächst einmal bei diesen Arbeiten die Verglasung ohne die traditionellen Bleiruten und die Strukturierung des Glases im Floatglas-Verfahren, schließlich der malerische Auftrag der Farbe auf das Glas, d.h. der kraftvolle Malgestus in satter Farbigkeit konzentriert auf Farbfelder auf dem Glas (Jena und Neubiberg) oder fast spielerischer gestischer Farbsetzung (Altötting). Diese drei Aspekte verdeutlichen auch die Modernität der künstlerischen Verfahrens von Thierry Boissel. Der Künstler strukturiert einerseits das Glas mit Zeichen und Lineaturen und bemalt dann diese mit seinen malerischen Setzungen durch Farbfelder oder gestischer Malerei. Durch seine Farbfelder entsteht eine über- und untereinander gelagerte Struktur, die den Raum sozusagen zusammenhält und -bindet. Seine gestischen Setzungen sprengen und erweitern den Raum nach außen. Das Licht kann dann durch die Glasstruktur vielfach gebrochen und gebündelt werden. So erschafft er sehr verschiedene malerische Flächen und erlebbare Farbräume und damit eine intensive Licht- und Farbgebung bei einer eindrucksvollen Steigerung der Raumwirkung. Mit diesen malerischen Mitteln, d.h. der eher flüchtig gestischen Farbsetzung wie in St. Magdalena, Altötting, schafft der Künstler eine Entgrenzung des Raumes und seine Erweiterung und fast zentrifugale Öffnung.

Sehr viel zurück genommener sind, wohl auch wegen der Architektur des Raumes, die Fenster der Kirche von St. Johannes Baptist in Jena. Die Mittel, die der Künstler verwendet sind ähnlich wie die in Neubiberg, allerdings in allem reduzierter. Der malerische Gestus auf dem Glas entfällt zugunsten eines rechteckigen und quadratischen, fast monochromen Farbauftrages in ruhigem Blau, Rot und Gold in strenger Anordnung. Die Strukturierung des Glases ist vielfältig. Es gibt Rasterungen mit Prismen, Kreis- und Wasserstrukturen etc. Dadurch entsteht der Eindruck eines Vorhanges aus Glas oder im Kontext des Raumes eine Schichtung von Vorhängen, als Raumschichtungen. Für die Aussegnungshalle von Neubiberg und für St. Johannes Baptist, Jena, kann man deshalb von einer Konzentrierung des Raumes oder besser noch von einer Grenzziehung im Raum durch die Farbe sprechen. Die Bedeutung von Licht, Raum und Farbe für die Architektur wird dabei deutlich lesbar und erlebbar.

Thierry Boissels freie Glasobjekte bringen noch ein weiteres Mittel in das Spiel von Licht und Farbe ein. Es sind farbige Gläser, die er übereinander legt und miteinander verbindet, d.h. miteinander verschmilzt (Fusing). Auch hier testet der Künstler die Möglichkeiten des Lichtes und die des Glases aus. Es entstehen Prismen für das Licht durch Verdichtungen und Überlagerungen von farbigem Glas, die selbst als Räume für das Licht im Raum stehen. Seine Arbeit „Antiphon“ (2007/2008), installiert auf dem Promenadeplatz in München, war in einer seltenen Weitung von Glaskunst, eine freie Arbeit im öffentlichen Raum, die permanent präsent, das Licht des öffentlichen Raumes nutzte, um Menschenbilder im Flimmern des Tages- und Nachtlichtes oder je nach Standort des Betrachters oder der Betrachterin in Erscheinung treten ließ. Das Epiphanische an dieser Arbeit im öffentlichen Raum ist das, was diese Glasarbeit so reizvoll neu machte.

Zugriff

Thierry Boissel experimentiert ständig neu mit Glas, Licht und Farbe. Licht und Farbe und das Medium Glas sind die künstlerischen Mittel deren sich Thierry Boissel bedient. Alle drei testet der Künstler auf ihre Möglichkeiten hin aus. Mit allen dreien versucht er Steigerungen zu erzielen. Dabei ist für den Künstler das Glas und seine handwerkliche Bearbeitung, das Ausgangsmaterial seiner Arbeit. Mit ihm und den möglichen Strukturen im Glas gibt er dem Licht Brechung, Richtung und Kraft. Mit der Verwendung von Farbe steigert er in seinen Arbeiten den Ton, den Klang und verstärkt die Raumwirkungen seiner Gläser.

Thierry Boissel ist Glasmaler, d.h. es geht ihm um Malerei auf Glas, und nicht wie in der Tradition um eine Bildproduktion mit farbigem Glas, Blei und Schwarzlot. Seine Malerei auf dem Glas ist meistens abstrakt, selten gegenständlich. Er setzt kraftvolle Zeichen, die er aus dem Pinsel entwickelt: Farbtupfer und Linien in satten, oft auch leichten, durchscheinenden Farben. Er gewinnt damit eine poetisch spirituelle Stimmung in der Weite des traditionellen Farbspektrums der Glasmalerei: gold (gelb), rot, blau, die er in verschiedenen Abstufungen und Intensitäten nutzt. Diese leichten Lichtakkorde kombiniert der Künstler andernorts mit geometrischen Setzungen: Rechtecke und Quadrate, die Fenster und Öffnungen verschließen und verengen und damit optisch neue Räume schaffen, dort wo Flächen sind oder Räume erst als Räume erfahrbar machen, sie weiten oder ihre Intimität betonen.

Die Glasarbeiten Thierry Boissels sind geprägt von sehr eigenständigen Umgangsformen mit dem Material Glas und der sehr individuellen Findung neuer Arbeits- und Wirkungsergebnisse. Seine experimentelle Arbeit mit dem Glas ist in Deutschland und wahrscheinlich auch in seiner Heimat Frankreich einzigartig und ohne Beispiel. Er ist damit ein Neuerer, der der traditionellen Glasmalerei und Glaskunst handwerklich und künstlerisch neue Wege gezeigt hat und zeigt. Der Begriff Glasgestaltung auf ihn und seine Arbeit bezogen ist deshalb durchaus vielschichtig. In dieser Vielschichtigkeit sind seine Arbeiten ein exzeptioneller Beitrag zur zeitgenössischen Kunst.


Parallelwelten

Christine Jung

Am Anfang tauchen sie aus einem abstrakten Grund auf, treten aus der Fläche hervor und wirken vielschichtig aus sich heraus. Dann bilden sich nach und nach Zusammenhänge, die Farben und Formen verbinden sich, verschmelzen miteinander und der Umgebung zu einem Ganzen. Mehr noch: Sie dringen mitunter weiter vor und erfüllen den Raum mit ihrer im Licht aufscheinenden Präsenz, um sich aus einer anderen Position heraus wieder aufzulösen, zu verflüchtigen. Es ist die Kunst aus Glas von Thierry Boissel, die sich nicht nur auf einer Ebene, sondern vielfältig im Raum entwickelt, in einem ständigen Oszillieren zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Alles scheint hier in Bewegung, in permanenter Veränderung, vieles wandelt und verwandelt sich im Spannungsfeld zwischen dem Abstrakten und Gegenständlichen. Immer wieder eröffnen sich neue Perspektiven, und dies vor allem an Grenzen, in Zwischenbereichen zwischen dem Innen und Außen. Denn der Künstler mit französischen Wurzeln, der sich insbesondere der raumbezogenen Kunst aus Glas widmet, gestaltet seine Werke in wechselreichen Dialogen mit der Umgebung und im engen Kontext mit der Architektur.

Schon von Anfang an erscheinen seine Arbeiten in vielen Schichten und Strukturen, die bis heute sein freies und angewandtes Werk bestimmen, es in vielfältiger Weise prägen. Fast immer ist es ausschließlich das Glas, der transparente, transluzente oder kolorierte Stoff, den der Künstler als alleiniges Ausdrucksmittel in seiner Kunst einsetzt. Dabei arbeitet und experimentiert Thierry Boissel vor allem mit den jahrtausendealten Techniken des Schmelzglases und des heiß strukturierten Glases. Er entwickelt oder erfindet viele neue Methoden, um seine künstlerischen Ideen und Konzepte vielfältig umzusetzen. Entstanden sind in diesen Techniken mehrschichtige Werke von besonderer Tiefe und Dichte, von großer körperhafter Präsenz, die sich in einem lebendigen Wechselspiel mit dem Licht und dem Ort offenbaren. Denn es geht dem Künstler vor allem um die Gestaltung des immateriellen Lichtes, es in der Materie einzufangen und vielfältig sichtbar zu machen. Das heißt, es geht ihm, wie er selbst betont, um die „Intensität des Lichtes und die Vibration des Materiales“. Insbesondere in seinen monumentalen, auf die Architektur bezogenen Werken, die auf einen konkreten Ort eingehen, spielt das Licht und seine Führung eine zentrale Rolle. Der in Deutschland lebende und arbeitende Künstler, der bei Ludwig Schaffrath an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste Glasmalerei studiert hat, setzt sich in seinen Arbeiten immer wieder intensiv mit dem Bauwerk und seinen Lichtverhältnissen auseinander. Er entwirft Werke in einer spannungsreichen Verbindung mit dem Gebäude und seiner Nutzung, in vielfältigen Bezügen zu dem Innen- und Außenraum. Seine subtilen, eigens für einen Ort geschaffenen Werke wirken nicht nur in den Raum hinein, sondern auch nach außen. Sie reagieren sensibel auf ihre Umgebung und erzeugen eine besondere Atmosphäre, die auf mehreren Ebenen wahrnehmbar ist.

In diesen Zusammenhängen gestaltet Thierry Boissel seine Werke in künstlerisch vielfältiger Weise. Je nach Situation und Lichteinfall setzt er die Farben und ihre Symbolik in vielen Nuancen und Kontrasten, in kräftigen oder aquarellartigen Tönen ein. Je nach Standort und Zusammenhang arbeitet er dabei mit verschiedenen Ausdrucksformen vom expressiv Bewegten bis hin zum minimal Konstruktiven. Zum Vorschein kommen klare elementare Formen und freie malerische Gesten ebenso wie figürlich erzählende Szenen oder landschaftliche Ansichten. Vielfach erscheinen sie in Verbindung mit einer Struktur, sind verschmolzen mit verschiedenen geometrischen und ornamentalen Mustern oder bildlichen Motiven. Diese tauchen punkt- oder linienförmig aus dem Grund auf, sowohl in Kombination mit der Farbe als auch ohne, gleichsam körperhaft sich erhebend oder plastisch herausbildend. Es finden sich Zeichen und Bilder, die je nach Blickwinkel mal in den Vorder- oder in den Hintergrund treten. Von der Ferne betrachtet erscheint manches in abstrakten Zusammenhängen, das aus der Nähe einen gegenständlichen Kontext offenbart. Vieles wandelt sich in den Werken von Thierry Boissel, vieles wechselt hier zwischen einer sichtbaren und unsichtbaren Präsenz, die dem Betrachter mehrere Möglichkeiten der Wahrnehmung eröffnet.

Zuerst sind es vorwiegend freie Arbeiten, kleine intime Glasbilder in abstrakten Zusammenhängen, die Thierry Boissel neben seinen Malereien, Skulpturen und Installationen anfertigt. Dann widmet sich der Künstler, der seit 1991 die Studienwerkstatt für Glasmalerei an der Münchner Akademie der Bildenden Künstle leitet, mehr und mehr der architekturverbundenen Monumentalkunst. Er entwirft Verglasungen für sakrale wie auch profane Räume, für historische und moderne Bauten. Es entstehen zahlreiche Fenster und Wände, Türen oder Dächer. die ihren auf den Ort bezogenen Gegenstand in einem reichen Zusammenspiel mit dem Licht wiedergeben. Eingeprägt in das transluzente Glas, umgeben oder überlagert von farbigen Akzenten oder Farbflächen tauchen Fragmente aus einem großen Ganzen auf, die – wie unter anderem in der Kirche von Fulda-Bernhard oder im Europäischen Bildungszentrum Otzenhausen – auf den Ort und seine Geschichte oder Funktion anspielen. Oftmals sind es künstlerische Zitate aus einem bekannten Werk oder Zusammenhang: Texte, Partituren, Bilder oder Topografien, die als Relief in Erscheinung treten. Mal deutlich sichtbar, dann undeutlich und unsichtbar tragen diese Arbeiten viele Spuren einer Vergangenheit, sie wirken vielfach historisch mit ihren Sprüngen und Brüchen, mit ihrer sichtbaren Geschichtlichkeit, die sich immer wieder mit der Gegenwart verbindet.

Von Erinnerungen an Vergangenes zeugen auch die Glas- und Wandarbeiten im Herzogschloss Straubing, die bei näherer Betrachtung die Geschichte des Ortes vergegenwärtigen. Es ist das tragische Schicksal der „Bernauerin“, hier in Auszügen aus der Partitur von Carl Orff, die sich wie Chiffren, in das Glas eingegrabene Zeichen, immer nur teilweise sichtbar zu erkennen geben. Sie sind verschmolzen mit einem changierenden Blau als Hinweis auf das fließende Element, ein Sinnbild für das Wasser der Donau, das sich in Bahnen über die Flächen zu ergießen scheint und nuancenreich über die Noten legt. Eine undurchsichtige, aber lichtdurchlässige Komposition, von beiden Seiten sichtbar und haptisch wahrnehmbar, die ihren Inhalt in der Sprache der Musik, festgehalten im Relief und verbunden mit der Malerei aus Glas offenbart. Das heißt: Sie verweist auf eine Geschichte, auf eine ehemalige Anwesenheit, die längst vergangen und verschwunden ist, aber in der Kunst als einer Form der Erinnerung lebendig gehalten wird. Mit diesen und anderen Werken arbeitet der Künstler immer wieder an Grenzen, an der Schwelle zwischen zwei Bereichen, um Räume miteinander zu verbinden und zu öffnen, sie künstlerisch zu bereichern und in ihrer Wirkung zu steigern.

Eine besonders wechselreiche Beziehung zwischen Innen und Außen in enger Verbindung mit der Architektur und ihrer Nutzung zeigt sich in einem weiteren Werk von Thierry Boissel in München-Neubiberg. Hier, in der 2001 errichteten Aussegnungshalle, hat der Künstler sich vollkommen vom Gegenstand gelöst und einer abstrakten Thematik gewidmet. Entworfen hat er eine klare künstlerische Gestaltung in warm leuchtenden Farben und geometrischen Formen, die das zentrale Motiv der Architektur und der gesamten Anlage – das Rechteck und Quadrat – wieder aufnimmt und verwandelt. Und dies sowohl in gleichmäßig eingeprägten Rasterstrukturen mit einigen wenigen Leerstellen als auch in großen, nuancenreich verlaufenden, sich überlagernden Farbfeldern, die stellenweise von schwarzen Elementen gerahmt und von weißen lichterfüllten Linien durchzogen werden. Eingebunden in das bauliche Konzept, als Teil der Architektur, konzentriert sich der Künstler in seinen Glasarbeiten auf das zentrale Thema der gesamten Anlage: Auf den Weg zwischen Anfang und Ende, zwischen Leben und Tod, auf den Neuanfang. Seine leicht und offen wirkenden Glasgestaltungen an der Front und der Seite erscheinen in symbolhaltiger Farbgebung in leuchtendem Gelb, Rot und Blau. Sie verweisen sinnbildlich auf das Licht und die Erde, auf das Wasser oder den Himmel an dieser Schwelle zwischen den beiden Räumen, als Mittler und Wegweiser zwischen dem Hier und Dort. So lenken die großflächig farbig gestalteten Scheiben an der großen Glasfront, die veränderlich und verschiebbar sind, je nach Situation den Blick nach innen oder außen: Sie geben ihn frei auf die weithin sichtbare Landschaft, auf die Wasserspur als Quelle, die zu dem dahinter aufragenden Berg mit Kreuzzeichen führt. Gleichzeitig nehmen sie das Licht von außen auf, verwandeln es in ein warmes Leuchten, das nicht nur abstrakte Formen oder Bilder auf die Wand, auf den Boden wirft, sondern auch weiter ausstrahlt und einen atmosphärischen Lichtraum erzeugt. Sie richten die Aufmerksamkeit des Betrachters auf etwas, das außerhalb liegt und sich gleichzeitig mit dem Inneren verbindet.

Auf eine andere abstrakte Weise gestaltet der Künstler eine Reihe von Werken, die von besonderer Präsenz und lichträumlicher Wirkung sind. Dazu gehören vor allem die Fenster in der barocken Kapuzinerkirche St. Magdalena in Altötting, die sich in den fünf Beichtzimmern befinden. Zwei transluzente Türen mit bildlicher und inschriftlicher Prägung führen aus dem Kirchenraum zu den kleinen Räumen mit ihren farbenreich und intensiv wirkenden Glasgestaltungen. Denn hier hat Thierry Boissel verschiedene Variationen eines Themas geschaffen, die sich mit ihrer aquarellartigen Malerei nicht nur auf dem Grund des Glases ausbreiten, sondern vielfältig in die Umgebung hinein leuchten, sie gleichsam mit ihren Bildern fluten. Der Betrachter wird in eine andere Welt, in einen inneren, von allem Äußeren abgegrenzten Bereich versetzt. Man tritt ein in einen Raum aus lichterfüllten Farben, ist ganz umgeben von ihren Erscheinungen, von ihren Energien und Ausstrahlungen. Aus dem farblosem Fond tauchen sie in bunt leuchtenden Tönen auf und wieder unter: Viele farbige Tupfer und Spuren oder Schleier in lichtem Gelb, luftigem Blau, sattem Grün und strahlendem Rot. Sie treten hervor als isolierte oder sich verbindende Farbformen in heiter beschwingten Tönen, die über dem Grund zu schweben scheinen und sich vibrierend oder flimmernd in Bewegung setzen. Schon auf der Fläche bilden sich atmosphärisch verdichtete Farbräume von großer Tiefe heraus, die darüber hinaus vielschichtig aus sich heraus in den Raum hinein wirken. Es sind abstrakte Kompositionen in leuchtenden Zusammenklängen wieder verbunden mit einem Relief, dessen Strukturen diesmal ein eigenes, ein anderes künstlerisches Eigenleben führen. Zu erkennen ist auf allen Fenstern ein Muster, das in deutlicher Beziehung zur barocken Kirche als ein historisches Ornament erscheint: Als ein vielfach verschlungenes Rankenornament, das diesmal nicht plastisch aus der Fläche hervortritt, sondern erst sichtbar wird durch das Fehlen der Strukturen innerhalb einer gerasterten Fläche. Das bedeutet: die Ornamentik wird präsent durch Abwesenheit, sie wird hinzugefügt durch das Auslöschen oder Ausblenden des Reliefs. Mit diesen individuell gestalteten Werken, die in jedem Raum eine andere Atmosphäre erzeugen und ihm eine weitere Dimension verleihen, hat der Künstler vielschichtig wirkende Licht- oder Farbräume von großer Tiefe, von unausweichlicher Wirkung und Gegenwärtigkeit geschaffen. So erscheint vieles an diesem besonderen Ort der Ruhe und Konzentration, des Insichkehrens und Bekennens, in einem anderen Licht und neuen Zusammenhängen.

Neben diesen farbintensiven Glasgestaltungen gibt es im Werk von Thierry Boissel eine Gruppe von Arbeiten, die sich vollkommen ohne Farbe der Wirklichkeit und ihrer vielfältigen Wahrnehmung widmen. Es handelt sich um fotorealistische Reliefbilder mit figürlichen Szenen nach digital bearbeiteten Fotovorlagen, die sich aus zahlreichen plastischen Punkt- und Linienrastern zusammensetzen und von mehreren Seiten visuell wie auch haptisch erfassbar sind. Aus dem Relief treten Figuren und Formen hervor und wieder zurück, die mal mehr oder weniger sichtbare Zusammenhänge erkennen lassen. Sie scheinen sich permanent zu verändern: im Zusammenwirken mit dem Raum, vor allem aber im Wechselspiel mit dem Licht, das vielfach in den Strukturen der Gläser zu reflektieren, zu schimmern und flimmern, zu vibrieren oder vielfarbig zu leuchten beginnt. Nicht alles ist auf einmal wahrnehmbar, vieles ist nur in Ausschnitten als Teil des Ganzen erkennbar. Es verwandelt sich mit der Bewegung des Betrachters, mit der Veränderung seines Standorts. Manchmal ist alles deutlich und klar, dann wieder erscheint es schemenhaft und wird unsichtbar, einiges wirkt abwesend und ist doch immer anwesend.

„Antiphon“ ist der Titel einer Serie von Installationen, die sich der zwischenmenschlichen Kommunikation widmet. Auf den rechteckigen Stelen, die im öffentlichen Raum aufgestellt wurden, sind verschiedene Begegnungen und Dialoge festgehalten. Männer und Frauen erscheinen beim Spazierengehen, sie befinden sich miteinander in einem Dialog, in einer bestimmten Situation oder Beziehung, die hier wie eine Erinnerung manchmal aufscheint und wieder verschwindet. Aus einem Blickwinkel heraus tauchen einzelne Personen körperhaft auf, die sich nur ein paar Schritte weiter wieder verflüchtigen und eine Leerstelle hinterlassen.

Dies gilt auch für die monumentale Glasgestaltung in der Pfarrkirche von Altenhundem, die sich in einem ständig wandelnden Licht präsentiert. Auf der drei mal achtzehn Meter großen Trennwand, die eine Werktagskapelle zum Kirchenraum abschließt, kommt die Geschichte der Hl. Agatha in zeitgenössischen Bildern zum Vorschein. Vor dem Hintergrund eines Vorhangs, der einiges verhüllt und anderes enthüllt, verbindet sich das Vergangene mit der Gegenwart, mehr noch, es wird übertragen in die Welt des 21. Jahrhunderts, in das Hier und Jetzt: Auf der einen Seite tauchen mehrere Zeitzeugen auf, Männer und Frauen in moderner Kleidung, die nachdenklich oder unbeteiligt wirken und sich im Gespräch befinden. Sie stehen im Gegenüber mit einer hoch aufragenden Bibliothek, die symbolisch auf die Geschichte, auf die Vergangenheit verweist. An zentraler Stelle öffnet die Kirchenpatronin neben den abgelegten Insignien ihres Martyriums den Vorhang: Sie lüftet den Schleier und weist den Weg in das illusionistisch wiedergegebene Innere der Kirche, den Chorraum, der sich tatsächlich in derselben Ansicht hinter der Glasgestaltung befindet und beim Öffnen der Tür sichtbar wird: Eine Inszenierung der besonderen Art, die sich tiefgründig zwischen Illusion und Wirklichkeit, zwischen räumlicher und bildlicher Realität bewegt. Denn auch hier verbindet sich wieder die künstlerische Gestaltung vielschichtig mit dem Raum und wird im Kontext erfahrbar. Sie ist gleichsam als Lichtraum begehbar und aus verschiedenen Perspektiven zu entdecken. Wieder ist es das bewegte Zusammenspiel mit dem Licht, das zu verschiedenen An- und Einsichten, zu variierenden Effekten und Wirkungen führt. Und wieder bilden sich immer neue Bilder heraus, die in ihrer sich wandelnden Präsenz auf das Erscheinen und Verschwinden von etwas Anwesendem verweisen.

Wie sich das Sichtbare mit dem Nichtsichtbaren verbindet, welche Gegenstände sich hinter dem Abstrakten verbergen, welche Inhalte zum Vorschein kommen – dies alles und noch viel mehr offenbart eine Reihe von Aquarellen, Gouachen, Glasbilder und Glasmalereien. Sie trägt den Titel „Farbgedichte“ und zeigt abstrakte Kompositionen bestehend aus verschiedenen Farbpunkten und -tupfern, die sich in scheinbar loser Folge aneinanderreihen, sich verbinden, mal stärker annähern und dann wieder distanzieren. Auf den ersten Blick wirken die Bilder vollkommen abstrakt, von jeder Gegenständlichkeit befreit. Doch bei näherer Betrachtung, nach Entschlüsselung des Codes offenbaren sie ihre poetischen Inhalte. Das zunächst Beziehungslose bildet einen Zusammenhang, das nicht Sichtbare wird offenkundig. Genauer gesagt: Die Farbgedichte sind nach der Zuordnung der Töne buchstäblich von links nach rechts, von oben nach unten zu lesen: Farbe für Farbe ertönt hier einer inneren Ordnung folgend, aber in einer eigenen Betonung und Akzentuierung. Sie reiht sich Buchstabe für Buchstabe aneinander und bildet Wörter oder Sätze, die verschiedene Zusammenhänge aufzeigen. Diese sind oftmals Ausdruck einer Stimmung, einer Emotion, die wiederum ganz eigene Bilder hervorrufen, in Erinnerung bringen: „Il n’est pas encore trop tard“ oder „Champagne pour tout le monde“: Zumeist sind es in den freien Arbeiten einzelne Zitate, Zeilen oder Titel aus französischen Chansons, die im Zusammenwirken von Malerei und Dichtung auf mehreren sinnlichen Ebenen wahrnehmbar sind bzw. durch die Verschmelzung von Farbe und Sprache synästhetisch wirken können. Immer ziehen die unregelmäßigen Farbpunkte oder -flecken in intensiv leuchtenden Zusammenklängen über die Flächen, sie scheinen sich in ihrem Neben- und Miteinander heiter und beschwingt in Bewegung zu setzen, zu lösen, über dem Fond zu schweben und in den Raum vorzudringen. Bereits in den Papierarbeiten entsteht ein mehrschichtiger Eindruck, der in den freien Glasbildern mit ihren hintereinander angeordneten, transparenten Scheiben in seiner räumlichen Wirkung noch gesteigert wird. Und auch in der monumentalen Kunst von Thierry Boissel, in seinen Entwürfen für eine Grundschule in München-Nymphenburg, finden sich Farbgedichte in lyrischer Abstraktion, die eine weitere Dimension eröffnen: Auf der transparenten Glasfläche ziehen farbige Tupfer und Flecken in leuchtenden Tonfolgen ihre Bahnen. Es bilden sich lichterfüllte und luftig bewegte Farblandschaften heraus, atmosphärisch verdichtete Erscheinungen, die sich bei näherer Betrachtung in bilderreiche Verse verwandeln. Hier, in der Grundschule, sind es zwei gleichnishafte Gedichte, „Der Regenbogen“ von Josef Guggenmos und „Der Baum“ von Eugen Roth, die von dem Künstler in die Sprache der Farbe übersetzt wurden. Zu entdecken sind zwei naturbezogene Sinnbilder, die zum Staunen und Nachdenken auffordern. Es sind zwei Metaphern über die Kostbarkeit und den Reichtum der Natur, die erst nach dem Lösen des Rätsels, in der spielerischen Auseinandersetzung mit der Zeichensprache, entziffert und in ihrer Anwesenheit präsent werden.

In seiner Kunst zeigt Thierry Boissel immer wieder verschiedene Wirklichkeiten auf, er findet und erfindet Bildwelten, die vielschichtig zwischen Abstraktion und Figuration schweben. Seine Werke zeugen von einer facettenreichen Farben- und Formensprache, die – inspiriert von der Natur, von der Welt und ihren Erscheinungen – vielfach auf einen bekannten Kontext und gleichzeitig darüber hinaus weisen. Immer wieder changiert seine Kunst in dem Raum dazwischen, an der Grenze zwischen zwei Bereichen, dem Sein und Schein. Nahezu alles erscheint hier in einer Beziehung zum Sichtbaren und Unsichtbaren, vieles macht auf etwas Anwesendes und seine Abwesenheit aufmerksam. Auf eine immer überraschende Art zeigt der Künstler, wie beides aus verschiedenen Positionen wahrgenommen werden kann. Und dies auf eine vielfältige Weise, oftmals sinnlich und poetisch, rätselhaft und geheimnisvoll, vielfach spielerisch und heiter, aber auch meditativ und mystisch. Thierry Boissel gestaltet Kunstwerke aus Glas und Licht, reich an Erinnerungen und Zitaten, die viel Gegenwärtiges reflektieren. Er kreiert Lichträume, die in ihrer wandelnden Erscheinung individuell erlebt und entdeckt werden können. Denn seine Werke sind immer offen für den Betrachter, sie bieten dem Besucher mehrere Möglichkeiten der Wahrnehmung und lassen ihm gleichzeitig viel Raum für die eigenen Empfindungen und Assoziationen: Für das individuelle Erleben einer Wirklichkeit, die, wie der Betrachter selbst, immer in Bewegung oder im Wandel ist.

 

light as a medium

Jerry Zeniuk, Munich, Feb. 2010

An image is a picture that cannot at first be separated from how it was first experienced or created. This association is tied to an emotional experience, that is often not discussed when examining or searching for the meaning of an image. Picture making is what it might be called. Pictures made by painters are understood and accepted without much controversy. Pictures made by artists like Dan Flavin are discussed in such another context from painting pictures that one would think its a new art form. But in fact, it is just another way of making the same pic- tures as before. Only that they are seen in a spatial context that are very mobile. What I want to point out is the emotional content that comes from picture making that uses real light as a medium.
I always liked Flavins work but never thought about what makes it spe- cial. His use of fluorescent bulbs make the work physical. He doesn’t hide anything. And he does not insert meaning from the outside, but let’s it come from the inside, that is the arrangements of his light fixtu- res, which are mostly very simple.
But what I really want to write about is glass painting. I don’t want to say I understand it, but it does fascinate me. The activation of physical light is the fascination. In painting, it is refection of light off pigmented flat areas. The physical light is not the prominent medium. In light sculp- ture, like Flavin, the objectness plays a prominent role. But in glass pain- ting, it is the image made by physical light that is the significant distin- guishing element that gives it its power and limitation. The light itself has a physical and emotional presence, that is connected to the colored glass choices,and image that it makes but is also independent of it. It is body and spirit at the same time. One without the other doesn’t exist. Harmony is a relevant issue in glass painting. Because the viewer needs to connect the ephemeral visual image with the tactile physicality that the glass itself insists on in the light that shines through. This light shi- nes as broken color that refers to its beginning as conceived by the glass motif. When the motif or image in the actual glass structure and the resulting light that comes into the space are in harmony, then the emo- tional power of physical light is evident in its full force. This is the ideal of glass painting, that the image is dynamic as the very nature of light itself.
All the glass painting that I have tried has been disappointing. I don’t know why. All I can say that the images that are created with colored glass light can be beautiful. Thierry Boissel is one artist whose work with glass I admire and with whom I often discuss this medium.

 

Licht und Sicht

Carlo Baumschlager, München, Januar 2011

Es gibt wenig – selbst für ein interessiertes Publikum schwer auffindbar – Schriftliches jedoch viel Gebautes zur Lichtgeschichte der Architektur. Diese weist zwei Besonderheiten auf: Bis zum 20. Jahrhundert ist die Sonne die einzige kräftige Lichtgeberin. Lediglich sakrale und imperiale Monumentalarchitekturen zeigen Baulichtideen und diese reflektieren vorwiegend Lichterscheinungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die meisten Architekten sich mit Symmetrien und historischen Stilen abmühten, bekommt der Blick eine neue Richtung: nach draußen. Der erlebte, gestimmte, leiblich erfahrene Raum wird als Phänomen erkannt. Zum Fensterloch als Sonnenfänger kommt unter anderem das Panoramafenster der Frühmoderne, das die Sehlust aufgreift und die Blicke einrahmt. Jenseits der eigenen Grenzen gibt es die zu leihende Landschaft. Das Draußen wird Teil des Wohlfühlens. Der Wunsch nach einer maximalen Annäherung und deren Grenzen zeigen all die gebauten Glasboxen. Die Schnittstelle zwischen innen und außen bricht das Licht. Erst mit der Television fallen die Sichtgrenzen, Tag und Nacht wird aufgehoben, es herrscht die Virtualreality.

Dennoch steht in den meisten heutigen Architekturentwürfen die Lichtpotenzierung im Vordergrund. Gute Architektur jedoch bietet auch den Gestaltungs- und Erlebniswert des Lichtes. Eine ständig wechselnde Belichtung trägt zur visuellen Aufwertung der Sehumgebung bei. So ändert sich das Erscheinungsbild der objektiven Umwelt vom Morgen bis zum Abend, vom heiteren Sonnentag bis zum farblosen Grau des trüben Nebels. Nicht zuletzt stellt das in den Raum fallende Tageslicht auch einen Bezug zur Außenwelt her, der bei der Beurteilung von Raumsituationen stark ins Gewicht fällt. Die Poesie des Raumes meint eben nicht nur das Vorhandensein von vier Wänden, sie umfasst den Wunsch nach einem stimmungsvollen, abwechslungsreichen Ambiente, welches die Qualität des Aufenthaltes definiert.

Das „Fenster“ spielt dabei eine tragende Rolle. Es ist einerseits Spender von Tageslicht und anderseits Öffnung, die einen visuellen Austausch von Innen und Außen ermöglicht. So entsteht das Spannungsfeld zwischen Licht und Sicht.

In der Gegenwartsarchitektur ist das Fenster jedoch nur eine der Möglichkeiten. Sehr oft wird es zur Wand verwandelt und damit rückt die Außenwelt unvermittelt in die Nähe. So entsteht eine neue Innen – Außenbeziehung. Mit dem daraus entstehenden latenten Wechsel von offenen und geschlossenen Flächen kommt Bewegung in die statische Raumwahrnehmung des Betrachters. Dabei spielt die Bewegung eine wichtige Rolle. Das Verständnis der Raumkonstellationen wird über die Inszenierung der Wege durch das Gebäude und sich verändernder Standpunkte hergestellt. Jenseits der Zweckgerichtetheit, die zur Belichtung und Ausleuchtung der Räume dient, entsteht ein ästhetisches Element, das die Architektur in ihrer Gestalt verändert. Das Licht steigert die Wahrnehmung der räumlichen und tektonischen Ordnung.

Wandöffnungen werfen nicht nur Licht, sondern auch Außenbilder in den Raum. Größe, Form und Anzahl der Öffnungen spielen dabei weniger eine Rolle, als vielmehr deren sinnfällige Platzierung. So kann das Spektrum vom kleinen Guckfenster, das den Blick auf ein besonderes Detail nach außen lenkt, bis hin zum riesigen Panoramafenster reichen, bei dem ein bestimmtes Bild des Außenraumes ins rechte Licht gerückt wird.

Darüber hinaus kann die transparente Trennung zwischen innen und außen dieses besondere Verhältnis verändern, überhöhen, verzerren, transformieren, umlenken und vieles mehr. Hier liegt ein überaus wertvolles und zu wenig genutztes Potential im Umgang mit dem architektonischen Raum.

Sonst bleibt ein Sonnenstrahl, um an die Existenz des Außenraumes zu erinnern, denn mit ihm dringen auch Ort und Zeit in den Raum ein.

 

Glasmalerei – zu Werken von Thierry Boissel.

Publiziert auf: Glassrevue.cz von Sven Künzel
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Zeitgenössische Glasmalerei – Zu Werken von Thierry Boissel

Prof. Thomas Zacharias, München, 1996

Der unaufdringliche, aber atmosphärisch wirkungsvolle Bezug zur Architektur und seiner Funktion charakterisiert auch die Glasfront des Musikzimmers der modernen Albert Schweizer Schule in Sonthofen, 1996, wo aquarellartig über die strenge Rahmenstruktur gesetzte Farbspuren aus geblasenem Glas eine heitere Improvisation in den Raum klingen lassen. Diese Beispiele öffentlicher Auftragsarbeiten aus den letzten Jahren zeigen die im Handwerk verankerte und zugleich experimentell erweiterte Erfahrung mit dem Material, mit seiner Transparenz und farbräumlichen Wirkung, womit der Künstler phantasievoll und sensibel auf verschiedene architektonische Aufgaben eingeht.

Thierry Boissel begreift seine Arbeit mit Glas in einem ursprünglichen Sinn: als Medium für Licht im Raum. Gleichwohl schafft er in seiner Experimentier-Lust auch ‚freie‘ Objekte. Einige beziehen sich auf seine Heimat in der Normandie: das Meer und die Fische. In einem alten Gemäuer seines Heimatortes installierte er 1997 eine Ausstellung mit dem hintersinnigen Titel „L’eau de lä“: Wellen und Glasfische. Diese erscheinen in Drahtglasscheiben wie im Netz gefangen, oder ausgebreitet in einem traditionellen Handkarren, oder draußen auf der Promenade zum Kilopreis angeboten. Auch hier suchen die Objekte spielerisch den Kontakt zum sozialen Raum.
Thierry Boissel wurde 1962 in Saint Valery en Caux geboren, studierte Wandgestaltung und Glasmalerei von 1982 – 1986 in Paris, von 1987 – 1991 an der Akademie in Stuttgart bei Ludwig Schaffrath. Seit 1991 leitet er die Studien- & Experimentierwerkstatt für Glasmalerei, Licht & Mosaik an der Akademie der Bildenden Künste München, wo er als engagierter, kenntnisreicher und beliebter Lehrer arbeitet. Durch Aufträge, Auszeichnungen, Ausstellungen und Wettbewerbe gewann er als eigenwilliger und entwicklungsfähiger Künstler der jüngeren Generation im Bereich der Glasgestaltung Profil. Seine Arbeit bewegt sich in einer Traditionslinie der Moderne, die von ‚Arts and Crafts‘ über das Bauhaus zu zeitgenössischen Aufgaben von ‚Kunst am Bau‘ führt, wo er gerade bei komplexen Vorgaben zu frischen und eleganten Ergebnissen findet.